4. Mai 2025
Solange wie ich leben mag
Werd ich die Stunde und den Tag,
Den Augenblick vor Augen haben,
Da sie dich mir, winzig und warm,
Zum ersten Mal in meinen Arm
Und in mein Herz zu schließen gaben.
Für einen Augenblick lang war
Mir das Geheimnis offenbar,
Warst du Antwort auf alle Fragen
Vom Sinn und Widersinn der Welt,
Der Hoffnung, die uns aufrechthält,
Trotz all der Müh’n, die wir ertragen.
Kein Dutzend Atemzüge alt
Und hattest doch so viel Gewalt
Und alle Macht über mein Leben.
So lang schon deinen Platz darin,
Und du vermochtest, ihm den Sinn
Zu nehmen, oder neu zu geben.
Noch nie zuvor im Leben war
Mir unsere Ohnmacht so klar:
Wir können nur hoffen und bangen.
Da stehen wir hilflos herum
Und taugen zu nichts, als nur stumm
Dies Geschenk dankbar zu empfangen.
So hielt ich dich, sie war vollbracht,
Die lange Reise durch die Nacht
Vom hellen Ursprung aller Dinge.
Hab‘ ich geweint, oder gelacht?
Es war, als ob um uns ganz sacht
Ein Schicksalshauch durchs Zimmer ginge.
Da konnte ich die Welt verstehn,
Dem Leben in die Karten sehn
Und war ein Teil der Schöpfungsstunde.
Einmal im Leben sah ich weit-
Hin über unsre Winzigkeit
In die endlose Weltenrunde.
Die erste Stunde, aus „Die zwölfte“ 1983
Foto © Hella Mey