8. Mai 2025
Dr. Brand
Wir hefteten ihm einen Schweineschwanz aus Löschpapier
Hinten an sein Jackett, wenn er vorn an der Tafel stand,
Vertieft in seinen „Alten Menge“, dies Latein-Brevier,
Der Klasse seinen gramgebeugten Rücken zugewandt.
Der kleine Dr. Brand war uns ganz einfach nicht gewachsen,
Nicht unserm Spott, nicht unsrer Bosheit und nicht unsren Faxen,
Zwei Dutzend Pubertanten, die ihn feixend imitierten
Und wie zum Hohn im Chor mit ihm „amare“ konjugierten:
Amo, amas, amat, amamus, amatis, amant,
Am Arsch – fügt‘ ich hinzu hinter der vorgehalten’n Hand.
Wir waren die Crème de la Crème der übelsten Gesell’n,
Er war so eine sanfte, verletzliche Kreatur,
Ein wohlfeiles Opfer für uns, geübt im Fallenstell’n,
Der gutmütige kleine Mann mit der Igelfrisur,
Der uns noch nach der Schule half, wenn wir Nachhilfe brauchten,
Uns nicht verpetzte, wenn wir auf der Schultoilette rauchten.
Zum Dank hieß es „einer für alle, alle gegen einen“.
Wir brachten den gestandnen Mann vor der Klasse zum Weinen,
Als auf der Tafel stand, gekritzelt von Schülerhand:
Ave Dr. Brand, dormituri te salutant!
Ein stoppelhaar’ges Mondgesicht
Ergänzte noch unser Spottgedicht:
„Wenn alles schläft, nur einer spricht,
Ist das Dr. Brands Unterricht“.
All das lag unter dem gnädigen Staub von 60 Jahr’n,
Der stille Kauz und sein Latein sind längst Vergangenheit.
Von einem seiner jüng’ren Schüler hab ich erst erfahr’n,
Dass er den Rosa Winkel trug an seinem Häftlingskleid.
Als sie von Sachsenhausen zum Belower Wald marschierten,
Geschunden, ausgehungert fanden ihn die Alliierten,
Mai ’45, stumm, verstört und nur noch Haut und Knochen,
Die Würde aber unberührt, sein Wille ungebrochen.
So gibt er mir noch eine Lektion, die ich nicht vergesse,
Im AcI: Memento, discipule, errare humanum esse!
Wie wünscht’ ich heute, dass ich Worte der Versöhnung fände,
Es tut mir so leid, ich bin mit meinem Latein am Ende –
Amo, amas, amat, amamus, amatis, amant –
Scio quod nescio, da mihi veniam, Dr. Brand!
Aus „Mr. Lee“, 2016
Foto © Hella Mey