Götz Alsmanns Vorwort zur CD-Box „Über den Wolken“ - Lieder aus vier Jahrzehnten

Ihr Lieben, Reinhard Mey ist einer unserer Größten. Er ist kein Mozart und kein Goethe. Aber er ist ein Charles Trenet und ein Johnny Mercer, ein Fred Buscaglione und ein Paul McCartney.

Wie sie ist er ein Poet für das Hier und Jetzt. Er ist ein Chronist unserer Welt und unserer Zeit. Er schreibt seine Chroniken für uns, die wir in dieser Welt und in dieser Zeit leben müssen.

Wie sie ist er einer, der die Musik als Vehikel nutzt, um über den Umweg der Ohren und des Herzens den Kopf zu erreichen. Oder andersrum. Reinhard Meys Texte sind berühmt für ihren Humor, ihren Charme, ihre Poesie, ihren sicheren Zugriff. Wie ich aus glaubwürdiger Quelle erfahre, gilt das genauso für seine französischen Chansons.

Und doch wird manchmal in der Diskussion über den „Liedermacher“ der Komponist R.M. vergessen. Das ist mehr aus frevelhaft, denn seine Melodien haben es nicht minder in sich. Man kann sie auf dem Klavier spielen und auf dem Kamm blasen – es bleiben schöne Melodien, gelegentlich sogar Melodeien. Mey ist ein echter Musiker. Daß seine Lieder dabei oft im berühmten „Volkston“ erklingen, dem sie immer wieder verblüffende Seiten abzugewinnen verstehen, sollte mit Fug und Recht all’ die Kollegen neidisch machen, die sich einen Wolf komponieren, um dann doch zielsicher im Abseits zu landen.

Ich weiß nicht, ob Reinhard Mey seine Stimme so ernst nimmt, wie wir, sein Publikum, das tun. Ob ihm wohl bewusst ist, dass sein oft jungenhaft anmutender Gesang (Allmächtiger – der Mann ist über sechzig!) mehr ist als nur eine Stimme, die wir seit weit über dreißig Jahren immer und überall hören und gehört haben? Reinhards Stimme ist wie… wie eine Tapete, wie der Lieblingsanzug, wie der Ahorn im Garten, der im Laufe von fünfzehn Jahren auf seine doppelte Größe anwächst, ohne daß man es merkt, wie der Kiosk in der Nachbarschaft, ohne den ein Überleben am Wochenende nicht möglich ist. Diese Stimme ist ein Teil unseres Lebens geworden.

Nochmal bemühe ich den internationalen Vergleich: Daß populäre Sänger im Laufe eines jahrzehntelangen Wirkens mit ihrem Publikum eins werden, von ihm geliebt werden, dass man ihr Tun als selbstverständlichen Teil des Alltags wie auch der gehobenen Stunden empfindet, dass man ungezählte Erlebnisse, Episoden, Anekdoten mit einem bestimmten Lied immer des einen Künstlers assoziiert. Das ist eine Erfahrung, die Yves Montand mit seinen Franzosen verbindet oder Frank Sinatra mit seinen Amerikanern. Nur wenige deutschsprachige Sänger kommen diesem Status nahe, um dann doch in die Diskussionsmühlen zu geraten, ob denn ihr Werk überhaupt satisfaktionsfähig sei.

Reinhard Meys Kunst ruft solche Diskussionen nicht hervor. Er muß nichts mehr beweisen. Er muß nicht allen gefallen. Wahrscheinlich will er das gar nicht. Und doch ist er ein Künstler, der von den meisten geliebt und von allen anderen
geachtet wird. Nah ist er uns allen.

Um uns noch näher zu kommen, geht Reinhard Mey regelmäßig auf Tournee. Nicht auf eine dieser „Deutschland-Tourneen“ Hamburg-Berlin-München, sondern richtig auf Tournee, achtzig Termine am Stück, Städte jeder Größe, Form und Farbe. Er spielt in Stadthallen, Mehrzweckhallen und Theatern. Überall.

Der Besuch eines Reinhard Mey-Konzerts, wenigstens einmal im Leben, sollte grundgesetzlich verankerte Pflicht sein, denn dergleichen erlebt man nicht oft:

Ausverkauftes Haus. Die Bühne ist leer, besser: fast leer, Mikrophonstativ, Ersatzgitarre – das ist das Bühnenbild. Reinhard kommt auf die Bühne. Das sieht irgendwie merkwürdig aus, denn er geht nicht, er läuft. Er rennt. Aber auch nicht richtig… Ein bisschen sieht es aus wie Emil Zatopek nach den ersten zehn Kilometern angereichert mit einem Kinder-gehen-mit-der-Milchkanne-in-derHand-zum-Krämer-Einkaufsschritt. Eine Art Hüpfen, den Kopf schiefgelegt, dem Publikum schon mal zublinzelnd und gleichzeitig den (natürlich tosenden) Begrüßungsapplaus chancenlos abzuwehren versuchend. Die ersten Gitarrenakkorde… jesses, spielt der gut! Auf seinen Schallplatten…pardon: CD-Aufnahmen kommt dieser Aspekt Mey’scher Kunst immer etwas zu kurz. Und dann die ersten Textzeilen. Freude. Paare schauen sich an, fassen sich bei der Hand, nicken sich zu, wollen alle dasselbe sagen: Reinhard Mey klingt exakt nach Reinhard Mey. Klingt unverfälscht und echt nach dem Mann, den man ein Leben lang kennt. Reinhard Mey ist alt genug und lange genug dabei, um allein mit seinen größten Hits eine komplette „Oldies Show“ gestalten zu können. Aber genau das tut er nicht.

Was wir im Konzert hören, hat nichts mit dem Klischee „Der Liedermacher mit Gitarre“ zu tun, diesem Schlagwort aus längst vergangener Zeit, das so oft in Lagerfeuer-Weltschmerz mündete, in einer Kreuzung aus Dylan-Pose und handbequemen Griffkombinationen.

Hier steht ein Künstler, der verlangt, dass sich sein Publikum, um in den Genuß alter Klassiker zu kommen, im selben Atemzug mit dem ganzen aktuellen Programm auseinanderzusetzen hat. Das funktioniert jeden Abend, weil die Kraft des Vortrags der neuen Lieder und die Überzeugung, mit der die alten Stücke vorgetragen werden, jeden Gedanken an einen Nostalgie-Abend im Keim ersticken.

Die körperliche Statur des Reinhard Mey ist, pardon, eher nicht so imposant.

Seine Bühnengarderobe ist in zeitloser Jeans-Couture gehalten. Die klassischen Entertainer-Insignien scheinen ihm eher lästig. Trotzdem ist die Bühne voll. Randvoll mit Persönlichkeit, mit Charme und mit Hingabe an die eigene Kunst.

Der Abgang von der Bühne erfolgt auf ähnlich akrobatische Weise wie der Auftritt. Der erste Abgang, wohlverstanden, denn Zugaben sind Pflicht.

Ein Reinhard Mey-Konzert gehört zum Wunderbarsten, das das Weltkulturerbe aufzuweisen hat. Und wer keins besuchen kann, hat ja immer noch seine Schallplatten.

Reinhard Meys Schallplatten…Bis auf ganz wenige Lieder zu Beginn seiner Karriere gab und gibt es auf Reinhard Mey-Tonträgern ausschließlich Reinhard Mey-Lieder zu hören. Meistens wurden die Chansons dabei instrumental aufgepeppt. Es gab Combos aller Art, ganz nach Charakter und Zeitgeschmack. Und der ist wechselhaft. Man hört den Aufnahmen an, ob sie aus den 60ern oder 90ern stammen. Man hört, wie ein Produzent oder Arrangeur im Laufe der Jahrzehnte mit einer Melodie, aber auch mit einem Text umgegangen ist. Seit einigen Jahren ist Manfred Leuchter, ein musikalischer Alleskönner von hohen Gnaden, für die Gestaltung Mey’scher Lieder verantwortlich, ganz im Einklang mit der Jetztzeit.

Jetztzeit… Vergangenheit… ganz egal! Ich liebe gerade den Charme des Alters, die Patina auf einem Arrangement, das sich damals durchzusetzen hatte. Ich mag es, die jeweilige Lesart des musikalischen Bearbeiters zu genießen, der ja nicht nur die Melodie sondern auch den Text eines jeden Liedes so umzusetzen hatte, wie man in der jeweiligen Epoche die inhaltlichen Bilder Reinhard Meys glaubte verstehen zu sollen. Reinhard Meys Lieder sind somit auch musikalisch eine Chronik ihrer Zeit. Einmal durften meine Band und ich unser Scherflein dazu beitragen. Eine Ehre!

Man mag sich an dieser Stelle fragen, wieso man Reinhard nicht viel öfter im Fernsehen sieht. Am Fernsehen liegt’s nicht. Anfragen gibt es zuhauf. Jede Talkshow könnte einen Reinhard Mey vertragen. Jeder bunte Musikabend könnte mit Reinhard Mey nur gewinnen. Und da liegt schon des Rätsels Lösung… Alle Sender brauchen Reinhard – aber er braucht sie nicht. Jedenfalls nicht immer.

Manchmal steckt er seinen Kopf aus der Höhle, macht in sorgsam ausgewählten Shows auf sich aufmerksam, sagt uns, dass eine neue CD, eine neue Tour ins Haus steht – und dann geht er wieder auf Tauchstation. So sparsam geht nur einer mit den Medien um, der vollkommen in sich ruht.

In der Zeit bis zum nächsten medialen Auftauchen wird ordentlich geackert.

Nach einem streng geregelten Jahresplan und Tagesablauf wird gedichtet und komponiert. So haben es auch Thomas Mann und Richard Wagner gehalten. Allerdings hat Reinhard mehr Alben komponiert und gedichtet als beide zusammen Bücher und Opern. Schon quantitativ ist das Werk Reinhard Meys ein opus magnum. In einem schöpferischen Beruf so viel zu leisten wie dieser Mann, davon so unendlich viel, das Bestand hat, das bleiben wird, das den Vergleich mit Allem aushält, geht nur mit einer solchen Disziplin. Wie die beiden eben Genannten ist Reinhard keiner, der mit leichter Hand ein Liedchen auf’s Papier semmelt. Da wird entworfen und verworfen, umgestrickt und bearbeitet. Geprüft und weggeschmissen. Wieder von vorne angefangen, gefeilt und poliert, bis Text und Musik eins sind miteinander – und Reinhard eins ist mit dem Lied. Aber Disziplin ist nicht alles –auch nicht bei Reinhard Mey.

Es gehört ein offenes Wesen dazu. Sicher: Reinhard macht sich, siehe oben, in den Medien rar. Aber dennoch ist er offen, denn er lässt uns alle durch seine Lieder an seinem Leben teilhaben.
Haben Sie beim Hören seiner Chansons nicht auch das Gefühl, dass keine der handelnden Personen frei erfunden ist? Haben Sie nicht schon vieles, was Ihnen hier vorgesungen wird, selbst so erlebt oder empfunden? Haben Sie im Alltag nicht schon über den selben Typen gelacht, die Reinhard Mey so anschaulich schildert? Hat manches Naturbild Ihnen nicht auch schon in der eigenen Anschauung den Atem verschlagen? Sind Ihnen die Gefühlsaufwallungen im Privatleben wie die emotionalen Eruptionen im Umgang mit Außenstehenden nicht ebenso vertraut wie dem Sänger, dem Sie hier lauschen? Kein Amtsschimmel, dessen Wiehern einen nicht selbst staunen gemacht hätte. Kein ruppiges Küstenwetter, dem man sich nicht selbst schon trotzig mit zusammengekniffenen Augen stellen wollte. Keine familiäre Verwicklung, die man nicht schon selbst durchgemacht hatte…

Stimmen hier nicht Künstler und Publikum bis in die zartesten Verästelungen geschilderten Seelenlebens überein? Wie kann das angehen?

Das funktioniert so trefflich, weil Reinhard der Freund seines Publikums ist. Und jedes Publikum liebt einen Freund auf der Bühne, liebt ihn sogar in der Hifi-Anlage.

Manchmal weiß man nicht, ob man Künstler, die man bewundert, wirklich persönlich kennenlernen möchte. Man hat Angst vor ihrem realen Auftreten, Angst davor, daß sie… tja… menschlich sind mit Seiten und Wesenszügen, die einem vielleicht besser vorenthalten bleiben sollten. Als ich Reinhard kennenlernte (von seiner großartigen Frau Hella ganz zu schweigen!!!) wurden alle Befürchtungen in der Spanne eines Augenzwinkerns weggewischt.

Humor, Nachdenklichkeit, Menschlichkeit und Lebensfreude – da sind Reinhard Mey die Person und Reinhard Mey der Künstler eins.

Das spürt man als Publikum, das bewundert man als Kollege und das genießt man als Freund.

Reinhard – chapeau!
Götz Alsmann

Danke, mein lieber Götz!
Reinhard

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