Gib mir Musik! - Dr. Antje Vollmer zur Mairegen-Tournee

Reinhard Mey: Es sind die Zwischentöne, die die Welt verändern

62 ausverkaufte Konzerte in 62 Tagen, ohne Pause, ohne in der Spannung nachzulassen, Abend für Abend drei Stunden lang einsam mit der Gitarre auf der Bühne, immer nahe am perfekten Moment, in dem alles gelingt – das schaffen nur ganz wenige Künstler. Reinhard Mey schafft das.

Es ist nicht so, dass er das leichthin und spielend schaffen würde. Das wäre auch gar nicht möglich bei der Präzision und ehernen Disziplin, der er sich unterwirft, bei der Sprachgenauigkeit seiner Texte und Poesie, die nicht einen Versprecher oder Patzer erlauben, nicht einmal in den Live-Zwischentexten. Es widerspräche auch der spürbaren Schüchternheit, mit der er – nach drei Jahren Bühnenabstinenz – zurückkommt. Fragend, tastend, staunend, dass sein Publikum noch immer da ist und nur eines will: „Gib mir Musik!“ Und er sagt allen Ernstes „Ich wusste nicht, ob ich noch singen könnte. Aber ich habe ja auch 45 Jahre geübt!“

Sie vertrauen ihm. Sie liefern sich ihm nicht aus, aber sie gehen mit ihm eine weite Strecke an so einem Abend: Immer ist da die Erinnerung an eine magische Kinderwelt (Spring auf den blanken Stein), an einen lange vergessenen Menschen (Gute Seele, Schwester, Freund), an das Aufblitzen einer kristallinen Sehnsucht (Ich wünschte, es wär noch mal viertel vor sieben und ich wünschte, ich käme nach Haus.)

Niemals kommt man nach Haus, aber nach so einem Konzert ist doch bewiesen: Melancholie verschafft einen genaueren Blick auf die Welt, sie widersteht der Lüge der falschen Bilder und der Überrumpelung durch den zeitgeistigen Kitsch. Manchmal wird es dabei plötzlich ganz ernst: „Wenn von allen stolzen Fahnen mir nur noch die weiße bleibt…“

Musik ist für Reinhard Mey selten nur ein Spiel. Sie ist Lebensmittel, sie ist Notwendigkeit, sie ist Zeit-Deutung – und sie hilft ihm, zu leben.

Er lebt nicht allein, auch nicht als Musiker. Bei genauerem Zuhören treten mit ihm viele auf, deren Art zu singen, zu komponieren und zu beobachten, ihn geprägt hat. Er ist ja selbst ein Stück Musikgeschichte.

Irgendwie stehen sie da auf der Bühne neben ihm: Hans Dieter Hüsch, Hannes Wader, Konstantin Wecker und Klaus Hoffmann mit ganzen Liedern oder Hommagen, Bettina Wegner, Peter Kraus und Annett Lousian in leicht hingeworfenen, ironischen Textzitaten, die die Zuhörer sofort verstehen. Überhaupt liebt er Ironie und Selbstironie als auflockerndes Stilelement, besonders in den schrägen Bezügen zu den eigenen Kult-Liedern (Gute Nacht , Freunde), die jede falsche Verehrung wegpusten. Verehrung lässt er nur zu für seine großen musikalischen Vorbilder, die durch einzelne Text- oder Refrain-Passagen wehen : Da ist Bob Dylan neben dem frühen Skiffle-König Lonnie Donegon, Neil Young mit seinem „Heart of Gold“neben dem großen James Taylor mit der Perfektion seiner Gitarrenbegleitung und Ray Charles mit seinem „Hit the road, Jack“ (Bunter Hund ). Daß Reinhard Mey nicht zu denken ist ohne die Lied- und Balladen-Tradition der französischen Chansonniers George Brassens, Barbara, sogar Francoise Hardy, versteht sich von selbst.

Der Höhepunkt dieses Konzertes, die große Eisenbahn-Ballade, steht in der amerikanischen Tradition der frühen 68er, wo der Country-Song in den Liedern von Woody und Arlo Guthrie unumkehrbar kritisch und politisch wurde, indem er vom sentimental-patriotischen „Wir“ zum rebellischen „Ich“ wechselte. Das ist schon meisterlich, wie da über volle 11 Minuten die ganze deutsche Geschichte – von den frühen Tagen der Arbeiterkolonnen und Stahlbarone bis zu den Deportationszügen der NS-Zeit und den echten Nachkriegs-Piraten der Kohlen-Klau-Kinder – in den Schienenstrang einer nächtlichen Eisenbahnfahrt gelegt wird. Ganz abgesehen von der grandiosen Qualität, dies alles in einem Live-Auftritt mühelos auf die Reihe zu bringen.

Diese epische Ballade folgt fast unmittelbar auf den anderen Herzflatter-Moment, wo Reinhard Mey mit dem Wiegenlied für sein „fernes Kindes“ (Drachenblut) eine solche Stille im Saal erzeugt, dass niemand zu atmen wagt. Dies Lied wird nicht eingeleitet und nicht aufgefangen, es steht einfach mitten im Raum. Dass es hier um etwas ganz Anderes, sehr Persönliches geht, spürt man beim ersten Ton.

Es gibt kein Reinhard Mey- Konzert ohne ein politisches Lied. Das Publikum – der ewigen, seichten Narzismen der Casting-Shows mehr als überdrüssig – begrüßt gerade dies mit besonders warmem Applaus. Hier ist einer, der nie in Reih und Glied ging, auch nicht in den Reihen linker Ideologen. Das bleibt auch einer, der selbst heute seine Söhne nicht in Auslandseinsätze schicken würde, nicht einmal in die der modernen Menschenrechts-Bellizisten. „Sei wachsam!“ – das ist kein lautes Agitationslied, aber quer zum Zeitgeist steht es doch.

Reinhard Mey ist überhaupt viel weniger selbstbezogen, als man ihm oberflächlich andichtet. Zwar wäre er kein Chansonnier, wenn er nicht über die Liebe, den Kummer, die Einsamkeit singen würde: Die erstaunte Feststellung: „Wir sind tatsächlich eins geworden“ gehört auf dieser CD zu den zärtlichsten Erkenntnissen, die in einem leicht verzögerten Walzer daher kommen. Aber vor allem liebt er die kleinen Geschichten vom Leben anderer, meist unauffälliger Menschen. So holt er „Antje“, die Königin einer Imbiss-Bude, aus ihrem Frittendunst für die Ewigkeit eines Songs ebenso auf die Bühne wie das verliebte Nachbarmädchen, die Kumpels aus der Skiffleband im alten Fuchsbau, Berlin-Reinickendorf. Nie weiß er es besser als die, die er besingt. Vielleicht gibt es das ja wirklich noch, dass einer einen respektvollen, genauen Blick hat für die vielen kleinen Welten, die um unsere eigene kleine Welt kreisen. In diesen Liedern gibt es dann auch besonders viele differenzierte Akkorde als musikalische Beigabe.

So ein Konzert wäre fast zu intim und filigran, wenn es dazwischen nicht sehr viele sehr komische Passagen gäbe. Das hat sich , meist als witziger Kommentar zum Mehrheits-Musikgeschmack, im Werk von Reinhard Mey durchgezogen von der frühen provozierenden „Annabelle“ bis zu den „Männern im Baumarkt“, dem Danklied an die „gute Fee“, die nicht jeden Wunsch erfüllt, und der Selbsterkenntnis eines Familien- und Alles- Ausputzer-Menschen, der Reinhard Mey auch ist (Ich bin).

Er ist eben immer genau so alt, wie er ist, er ist überhaupt , wie er ist. Ein Lebenskünstler, ein Lebensbegleiter, ein Liedermacher.

Antje Vollmer
April 2012

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